Prothese im brasilianischen Look

Die Prothese im brasilianischen Look von Ottobock Health Care auf der OTWorld passend zur WM 2014. (Bild: Leipziger Messe / Tom Schulze)

Neben den verhältnismäßig seltenen unfallbedingten Amputationen und den verglichen damit weltweit deutlich häufigeren Minenopfern sind mit 70 Prozent der Betroffenen einer Beinamputation die Diabetespatienten die größte Gruppe. Experten rechnen damit, dass in diesem Zusammenhang die Zahl der Amputationen künftig noch weiter steigen wird.

Die passende Prothese zu finden ist zuallererst ein Kompromiss aus den unterschiedlichen, teils konträren Anforderungen des einzelnen Patienten. Ein junger, sportlicher Mensch etwa hat einen hohen Anspruch an Dynamik und Funktion.

Genug Stabilität

Genug Stabilität für alle Vorhaben. Bild: medi.de

Je mehr Funktionen die einzelnen Bauteile einer Prothese aber bieten, desto schwerer wird die gesamte Prothese. Das wiederum schreckt unter Umständen einen ältereren Mensch ab, der eher eine hohe Sicherheit hinsichtlich der Sturzgefahr sowie ein geringes Gewicht erwartet.

Standsicherheit und Dynamik

Kniegelenke müssen ganz allgemein Sicherheit gegen das ungewollt zu starke Einbeugen geben, etwa im Stand oder beim abwärtsgehen auf schiefen Ebenen. Eine besondere Herausforderung für das Gelenk ist das Treppensteigen: Beugt sich das Knie zu sehr ein, fühlt sich das für den Patienten haltlos an, als ob man nach unten ins Bodenlose wegsackt – da sind eine gute Abfederung und Dämpfung erforderlich. Gleichzeitig muss das Durchschwingen des Unterschenkels beim Gehen möglich sein.

Genium-Kniegelenk

Das Genium-Kniegelenk von Otto Bock steckt voll neuester Computer-, Sensor- und Regeltechnik. Via Bluetooth spricht die App auf dem Handy oder die Fernbedienung mit dem Gelenk. Bild: Otto Bock

Die Standsicherheit wird entweder durch Sperren erreicht, durch lastabhängige Bremssysteme oder durch die Anordnung und Position der Gelenkachsen. Die beste Standphasensicherung bietet ein in gestrecktem Zustand gesperrtes Kniegelenk. In der Schwungphase kann das Knie dann aber nicht gebeugt werden, was ein stark humpelndes Gangbild mit großer Belastung für den Bewegungsapparat zur Folge hat.

Solche Kniegelenke werden nur bei Patienten mit einem sehr großen Sicherheitsbedürfnis eingesetzt. Flexibler sind Bremssysteme, die auf Belastung reagieren. Damit ist ein Durchschwingen der Prothese unter dem Körper möglich, während im Stand die Kniebeugung verhindert wird.

Monozentrische Gelenke haben eine meist nach hinten verlagerte Gelenkachse, die Standsicherheit erfolgt wahlweise durch Rückverlagerung des Gewichts oder durch lastabhängige oder hydraulische Bremssysteme. Bei polyzentrischen Gelenken sichert die Anordnung der vielen Achsen das Gelenk vor dem ungewollten Einbeugen.

Natürliche Bewegung erzeugen

Die Steuerung der Schwungphase kann mechanisch mittels Federvorbringer, pneumatisch, hydraulisch oder aber elektrisch und computergesteuert erfolgen. Ausschlaggebend für die Auswahl der Technik sind auch hier wieder die Bedürfnisse und die Aktivität des Amputierten.

Der Unterschenkel der Prothese soll in jedem Fall beim Laufen möglichst natürlich bewegt werden. Dies hat nicht nur ästhetische Gründe, sondern schont auch den gesamten Bewegungsapparat.

Außerdem weiß man heute, dass ein möglichst symmetrisches und unauffälliges Gangbild die gesunde Seite vor frühzeitigem Verschleiß schützen kann. Reduziert werden können dadurch auch Begleitbeschwerden wie muskuläre Verspannungen.

In mechanischen Prothesengelenken wird bei der Beugung des Knies nach hinten eine Feder zusammen gepresst. Wenn sich diese wieder entspannt, unterstützt sie die Bewegung des Unterschenkels nach vorne. Eine Dämpfung der Bewegung – also eine Kontrolle der Geschwindigkeit des Beugens und Streckens – erfolgt ausschließlich durch Reibung und Anschlagpuffer. Pneumatische Kniegelenke bewegen und komprimieren beim Abwinkeln und Strecken des Knies Luft in einem Zylinder. Der Orthopädietechniker kann für Streckung und Beugung getrennt einstellen, wie viel von dieser Luft zur Unterstützung der Bewegung als eine Art energierückgebendes Polster, oder aber zum Dämpfen der Kniebewegung eingesetzt wird.

Infrarot-Tracking

Bewegungsanalyse mit hochauflösendem Infrarot-Tracking-System. Bild: Fraunhofer IPA

Das Kniegelenk der Firma Streifeneder, das Kinegen.air zum Beispiel, ist mit einer lastabhängigen Bremse, einem kniestreckenden Federelement und einer Pneumatik ausgestattet. Die Pneumatik des Gelenkes erlaubt neben den voneinander unabhängigen und stufenlosen Einstellungen der Bewegungswiderstände für Flexion und Extension auch die sehr fein justierbare stufenlose Einstellung der Endlagendämpfung. Dadurch wird der Extensionsanschlag kurz vor der vollen Streckung des Gelenks komfortabel gedämpft.

Das polyzentrische Kniegelenk ermöglicht einen besonders großen Beugewinkel und bietet durch die Beinverkürzung in der Schwungphase mehr Stolpersicherheit. Wie beim natürlichen Gehen wird das Bein während des Vorschwingens leicht angehoben, damit es nicht über den Boden schleift. Das entlastet den Stumpf des Patienten und das Gangbild wirkt wesentlich harmonischer. Je nach gewünschter Einstellung ist bei Gelenkstreckung sogar ein komplett anschlagfreies Gefühl im Stumpf möglich.

Bei hydraulischen Gelenken übernimmt dagegen ein Öl die Dämpfung der Bewegung des Kniegelenks. Diese Gelenke werden meist für sehr aktive Anwender eingesetzt, da das nicht komprimierbare Öl über noch größere Dämpfungseigenschaften verfügt. Außerdem ermöglicht die gute Wärmeableitung der Hydraulik auch einen ausdauernden Einsatz bei langen Fahrradtouren oder gar im Wettkampfsport.

Bei der Hydraulik selbst handelt es sich in der Regel um eine passiv-hydraulische Funktionsweise. Am Beispiel des Genium-Kniegelenks des Weltmarktführers Otto Bock lässt sich sehr gut die passive Dämpfung ersehen. Im Kanal befinden sich zwei Servomortoren, die als Stellmotoren Ventile ansteuern. Diese Ventile weiten, beziehungsweise verengen den Kanal für den Durchfluss der 35 Milliliter Synthetiköl.

Die Pumpbewegung wird durch den Schwung beim Gehen durch den Träger selbst erzeugt. Die Stellmotoren werden elektronisch durch einen Mikroprozessor gesteuert. Den dafür nötigen Strom beziehen sie aus einem Akku. Bei durchschnittlicher Belastung hält dieser Akku bis zu fünf Tage lang – lehrt er sich, wird der Prothesenträger durch einen Vibrationsalarm gewarnt. Fällt der Strom gänzlich aus, schaltet das Gelenk in einen Sicherheitsmodus, um zumindest die Standsicherheit zu gewährleisten.

Hydraulische Gelenke sind mit rund 1200 Gramm im Schnitt 200 Gramm schwerer als die pneumatischen Modelle, was sich auf Dauer oder bei einem älteren Träger durchaus bemerkbar macht.

Bei dem Mercury Smart Mobility-Gelenk der Firma Endolite fasst der REX2-Hydraulikzylinder zum Beispiel ganze 600 Milliliter. Andererseits sind die hydraulischen Konstruktionen besser in der Lage, auch schwerere Personen mit bis zu 150 Kilogramm Körpergewicht zu unterstützen, während pneumatische Systeme in der Regel für Personen bis maximal 125 Kilogramm ausgelegt sind.

Während die pneumatisch betriebenen Gelenke einen Kniebeugewinkel von bis zu 150 Grad ermöglichen, sind bei den hydraulischen Systemen oft bei 135 Grad die Grenzen erreicht – damit wird das Sitzen in engen Autofonds zum Teil bereits unangenehm. Gleichwohl gibt es auch Hybridlösungen auf dem Markt. Das Orion2-Hybridkniegelenk von Endolite ist ein mikroprozessorgesteuertes Hybridkniegelenk mit hydraulischer Standphasensicherung und pneumatischer Schwungphasensteuerung.

Blick in die Zukunft

FDM-Verfahren

Das Fraunhofer IPA arbeitet daran, Druckmethoden für die Herstellung von Prothesen zu entwickeln. Mithilfe des FDM-Verfahrens können Pro- und Orthesen kostengünstig gedruckt werden. Bild: Fraunhofer IPA

Prothesen aus dem 3D-Drucker

Vorlagen zur Herstellung von Oberschenkelprothesen wurden bis vor wenigen Jahren ausschließlich nach Gipsabdruck hergestellt. Das bedeutete eine für den amputierten Patienten langwierige Anpassungsphase, um ein optimales Ergebnis zu erreichen. Mitunter dauert es Monate, bis der Prothesenschaft richtig saß, zumal sich das Bein nach einer Amputation erst mal laufend verändert. Die Kombination aus 3D-Scanner, CAD-Technologie und generativen Fertigungsverfahren kann das Herstellungsverfahren der Prothese abkürzen und erleichtern.

Das Volumen des Stumpfes kann gescannt, präzise berechnet und auf eine CNC-Fräse übertragen werden, die das passende Modell exakt ausfräst.

Auf lange Sicht könnte eine ganze Zweitprothese für Menschen mit fehlenden Armen oder Beinen aus dem 3D-Drucker kommen, wenn auch nicht mit dem Komfort einer hydraulischen Dämpfung. Mit Hilfe eines generativen Fertigungsverfahrens würde dann die neue Prothese schichtweise ausgedruckt. Dafür verwendete Polyester sind äußerst strapazierfähig, wasserfest und in der Herstellung kostengünstiger als bisher verwendete Materialien. So kann ein generativ gefertigter Prothesenfuß je nach Konstruktion ein Patientengewicht von zirka 450 Kilogramm aushalten ohne zu brechen – das erfüllt die ISO-Norm 22675.

Allerdings gilt es noch, diese Herstellungsprozesse so weit zu optimieren, dass sie in der Orthopädie adaptiert und kostengünstig eingesetzt werden können. Dann wäre es auch denkbar, Menschen auf der ganzen Welt, die beispielsweise Opfer von Landminen wurden, mit preiswerten und stabilen Prothesen zu versorgen.

Aktive Unterstützung für ausdauerndere Leistung

Alle bisher beschriebenen Prothesenkniegelenke sind passive Konstruktionen, die über die Muskelkraft des Patienten sekundär bewegt werden. Vereinfacht betrachtet hebt der Amputierte die Prothese mit Rumpf- und Hüftmuskulatur an und bringt sie mit einer Bewegung in die Hüftbeugung nach vorne. Dies erfolgt alles mit der verbliebenen Muskulatur, die zudem teilweise ihrer Ansätze am Ober- und Unterschenkel beraubt und damit in ihrer Kraft geschwächt ist. Das Prothesenkniegelenk steuert und reguliert nur die Bewegung. Das ist immer auch mit einem Energieverlust verbunden. Um eine Beinprothese richtig benutzen zu können, muss man körperlich fit und belastbar sein. Die Firma Össur stellte deshalb bereits 2006 das erste motorbetriebene Kniegelenk vor.

Das Power Knee ist nach wie vor das einzige motorbetriebene Kniegelenk auf dem Markt. Das Gelenk ermöglicht zwar ermüdungsfreies Gehen über längere Distanzen, kompensiert diesen Vorteil aber teilweise durch sein hohes Eigengewicht von 2,7 Kilogramm ohne Oberschaft. Außerdem ist eine intensive Lern- und Trainingsphase von mindestens vier Wochen unter physiotherapeutischer Anleitung und technischer Betreuung durch einen speziell geschulten Orthopädietechniker erforderlich. Während dieser Zeit wird es kaum möglich sein, sich beruflich zu betätigen, da diese Trainingsphase täglich einige Stunden beansprucht. Die Haltbarkeit von Prothesen ist sehr unterschiedlich.

Junge, aktive Menschen können innerhalb von ein bis zwei Jahren eine Prothese völlig verschleißen. Bei anderen Patienten hält die gleiche Prothese zehn Jahre. Grundsätzlich sollte eine Prothese mindestens zwei Millionen Be- und Entlastungszyklen durchhalten, also einer Wegstrecke einmal quer durch Europa. Immerhin schlägt eine Alltagsprothese mit gut 35.000 Euro zu Buche, während eine Sportprothese ohne Sensorik auf etwa 15.000 Euro kommt. Premiummodelle können auch bis 45.000 Euro kosten. Dafür bekommt der Patient dann absolute Hightech.

Bei Otto Bock bestehen diese Prothesen etwa aus bis zu 500 Einzelteilen, darunter zahlreiche Sensoren – beim Modell Genium sind es 24. Diese Sensoren erkennen in Echtzeit, in welchem Bewegungszustand sich das künstliche Bein gerade befindet. Alle Einstellungen werden kabellos via Bluetooth vorgenommen. Die Bewegungswiderstände werden mit dem PC in den Prozessor des Kniegelenks einprogrammiert, so etwa die Dämpfungsrate beim Treppenhinabgehen, also der spürbare Widerstand. Die Steuerung arbeitet mit 100 Hertz und erreicht damit nahezu Echtzeit, so daß der Patient nicht auf sein Bein warten muss, sondern verzögerungsfreie Bewegungsabläufe hat.

Natürliche Bewegungsabläufe analysieren

Die Ersatzteile aus den Hightech-Schmieden erleichtern generell das Leben umso mehr, je näher sie dem natürlichen Bewegungsablauf kommen. Die Abteilung Biomechatronische Systeme des Stuttgarter Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) betreibt deshalb einen hohen Aufwand, um natürliche Bewegungsabläufe zu analysieren.

In einem eigens dafür eingerichteten Labor zeichnen synchronisierte Kameras aus unterschiedlichen Richtungen die Bewegungen von Personen auf und liefern so ein räumliches Bild. Zugleich registrieren Kraftmessplatten, die in den Boden integriert sind, die Belastungen. Daraus lassen sich alle Kräfte ermitteln, die in den Muskeln, Sehnen und Gelenken bei den jeweiligen Verrichtungen wirken. Um die Kraftmessplatten in beliebiger Anordnung – und immer wieder neu – verlegen zu können, verwendet das Institut ein Modulsystem der Salemer Firma Rose + Krieger. Als Träger dienen Aluminiumprofile, in die sowohl Messplatten als auch übliche Bodenbeläge passen. So lässt sich selbst auf Treppen und Rampen problemlos messen. jl  

Autorin: Ragna Sonderleittner, freie Autorin für fluid

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