Der Weg über den Gotthardpass hat seinen eigenen Reiz: Haarnadelkurven, Gebirgsbäche und frisch-kalte Bergluft. Schnell kommt man auf diesen Wegen allerdings nicht voran. Mühsam schuften sich Vehikel den Berg hinauf und um die zahlreichen Kurven, im Winter ist monatelang kein Durchkommen.
Schon 1871 begannen die Schweizer, einen Eisenbahntunnel durch das gewaltige Gotthardmassiv zu bauen. 1970 kam der Gotthard Straßentunnel dazu. Doch der Transitverkehr zwischen Italien und den anderen europäischen Ländern steigt unaufhörlich. So gehören lange Staus vor dem Straßentunnel längst zum Alltag.
Den Schweizern sind der Lärm und die Luftverschmutzung ein Dorn im Auge. Um Natur und Gesundheit der Anwohner zu schützen, haben die Eidgenossen 1992 per Volksentscheid den Bau der Neuen Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT) beschlossen. Damit begann 1993 ein Maschinen- und Bergbauabenteuer. Denn damit die Schienenverbindung mit dem Straßentransport konkurrieren kann, müssen überzeugende Argumente her, zum Beispiel hurtige 200 bis 250 Kilometer pro Stunde. Bei solchen Geschwindigkeiten ist das Berg-Erklimmen keine Option mehr.
Eine sogenannte Flachbahn, deren Strecke kaum Steigung enthält, musste her. Den Weg legten die Planer tief in die Berge hinein, mitten durch das Gotthardmassiv hindurch. Damit hatten sich die Erbauer nichts weniger als den längsten Tunnel der Welt vorgenommen. Nach langen Jahren unermüdlicher und gefährlicher Arbeit beginnen dort nun die Probefahrten.
57 Kilometer misst der Basistunnel. Er führt auf einer Höhe von maximal 550 Metern über Normalnull durch den Fuß des St. Gotthard. Zwei einspurige Tunnelröhren unterqueren das Alpenmassiv von Talboden zu Talboden auf einer nahezu flachen Bahn. Insgesamt waren dafür 151.840 Kilometer Stollen- und Tunnelsysteme nötig. Um das gewaltige Projekt zu beschleunigen, unterteilten die Planer den Bau der beiden Hauptröhren und ihrer etwa 180 Querstollen in fünf Abschnitte, an denen parallel gearbeitet wurde. Die Arbeiter gruben dann Zufahrts- und Versorgungstunnel. Sie höhlten riesige, unterirdische Hallen aus als Ausgangspunkt für Tunnelbohrmaschinen und Sprengungen.
Während auf den Hängen des Massivs Skifahrer über den Schnee bretterten, bahnten sich rund zwei Kilometer tiefer vier Tunnelbohrmaschinen mit brachialer Gewalt und Getöse ihren Weg. 10,5 Millionen Kubikmeter Gestein hatten die Herrenknecht-Maschinen bei Beginn der Bohrungen 2003 insgesamt vor sich. Diese Maschinen messen im Durchmesser rund 9,5 Meter und haben eine Länge von je 400 Metern. Es handelt sich dabei um einfach verspannte Gripper-Maschinen.
Das Prinzip ist einfach: Die Maschine spannt sich mit Seitenstützen hydraulisch in den Tunnel und schiebt den Bohrkopf nach vorne gegen das Gestein. Auf dem sich drehenden, neun-Meter-Schneidrad der Maschine sitzen die Rollenmeißel. Sie werden mit 26 Tonnen Anpresskraft auf den Fels gedrückt und lösen das Gestein. Ausgebrochenes Material gelangt durch Öffnungen im Schneidrad nach hinten, wo es ein Förderband abtransportiert.
Wenn die Zylinder der Tunnelbohrmaschine voll ausgefahren sind, lösen sich die Seitenstützen und werden mit dem Rest der Maschine nachgezogen. Das kann man sich so ähnlich vorstellen wie die Fortbewegung eines Regenwurms. Der Vortrieb, also die Länge eines solchen Schrittes, beträgt etwa zwei Meter. Damit schafft eine solche Tunnelbohrmaschine bis zu 40 Meter pro Tag. Lenkzylinder ermöglichen es den Ungetümen, sanfte Kurven zu fahren.
Um zu verhindern, dass hinter dem Bohrkopf und seinem Schutzdach gleich wieder Felsbrocken herabstürzen, gibt es verschiedene Wege. Sie unterscheiden sich je nach Geologie. Eine Möglichkeit, um Niederbrüche zu verhindern, besteht darin, Stahlanker in den Fels zu bohren. Alternativ können die Arbeiter Matten oder Stahlringe installieren.
Sissi und Heidi bleiben stecken
Trotz aller Vorerkundungen sorgte der Berg immer wieder für Überraschungen. So wurde der Vortrieb am Gotthard auf der Südseite nach nur 200 Metern im Februar 2003 durch brüchiges Gestein ausgebremst. Eine geologische Störzone, sogenannte Kakirite, bremste die beiden Maschinen aus, die von den Bohrmannschaften liebevoll „Sissi“ (S-210, in der Oströhre) und „Heidi“ (S-211, in der Weströhre) getauft worden waren.
Für die auf hohe Gesteinshärten ausgelegten Gripper-Tunnelbohrmaschinen sind derartige Strukturen zu weich, was gute Vortriebsleistungen nahezu unmöglich macht. Die Arbeiter mussten jeden gewonnenen Tunnelmeter nachsichern. Es dauerte bis August 2003, ehe die Maschinen die 400 Meter breite Störzone im Schneckentempo hinter sich gebracht hatten.
In den Baustellenreport mischen sich jedoch auch unerwartet positive Meldungen. Gute Nachrichten kamen zum Beispiel im Frühjahr 2004 von der Nordseite: Für die Intschi-Zone hatten die Geologen laut Plan einen Vortriebsstillstand von bis zu vier Monaten vorgesehen. Diese Zone stellte sich jedoch als nur rund halb so lang wie erwartet heraus. „Gabi 1“ und „Gabi 2“ konnten sie mit verringerter Vortriebsleistung sicher durchörtern.
Kampf mit Sand und Wasser
Kritisch wurde es im Juni 2005. Ohne Vorwarnung sprudelte plötzlich eine Mischung aus Sand und Bergwasser in die Weströhre. Der Bohrkopf der Gabi 2 blockierte. Vergeblich bemühten sich die Mineure, das Feinmaterial von Hand vom Bohrkopf zu entfernen und die Maschine einige Zentimeter zurückzuziehen. Um der verfahrenen Situation zu entkommen, injizierten die Tunnelbauer schließlich eine Zement-Bentonit-Mischung in den lockeren Bereich vor der Maschine. Gleichzeitig brachen sie einen 50 Meter langen Stollen von der Ost- zur Weströhre aus, um den Bohrkopf im sogenannten Gegenvortrieb freizulegen. Erst im November 2005 konnten sie nach fünf Monaten Stillstand den regulären Vortrieb wieder aufnehmen.
Umso größer war die Freude, als der erste Durchschlag stattfand: Im Herbst 2006 brachen die Tunnelbohrmaschinen Sissi und Heidi in die unterirdische Faido-Halle durch. Der erste Teil war geschafft, doch der schwierigste Abschnitt stand den Maschinen noch bevor: Nach einer kurzen Pause für Revisionen ging die Arbeit weiter, nun mit direktem Kurs auf die gefürchtete Piora-Mulde.
Es handelt sich dabei um einen Trichter, der mit einer Mischung aus zuckerförmigem Dolomit und Wasser gefüllt ist. Die Existenz dieser Formation war bekannt, und kaum eine andere Passage des Gotthards untersuchten die Planer vor dem Bau so gründlich wie diese. Doch wie weit der Trichter in den Berg ragt, wusste keiner. Sondierungsbohrungen sollten diese Frage klären. Außerdem trieben die Arbeiter von der Straße aus einen rund fünfeinhalb Kilometer langen Stollen auf die Zone zu.
Der Durchbruch zum Trichter ging als
„D-Day at Piora Beach“ in die Medienberichterstattung ein. Mit 150 bar schoss ein dicker Strahl Wasser-Dolomit-Gemisch aus dem Berg und überschwemmte die Straße. Es sah düster aus für das Projekt. Doch nach 19 Schrägbohrungen aus den Sondierstellen heraus, die bis in die Nähe des geplanten Tunnelverlaufs reichten, gaben die Planer Entwarnung: Sie trafen auf festes Gestein ohne Wasserdruck. Ein Gipshut dichtet die Mulde nach unten ab, fanden die Tunnelbauer schließlich heraus. So bohrten sich Sissi und Heidi ungestört unter dem Trichter hindurch.
Stahlringe halten Aushöhlung offen
An einigen Stellen arbeiteten die Ingenieure mit Sprengstoff statt mit Tunnelbohrmaschinen, zum Beispiel für die riesigen, unterirdischen Bahnhöfe an den Zwischenangriffen Faido und Sedrun. In einem Notfall sollen die Züge hier in speziellen Haltebuchten stoppen. Zudem erlauben die Tunnelverzweigungen im Betrieb den Wechsel von der einen in die andere Röhre. Ein System aus Seiten- und Verbindungsstollen sorgt dafür, dass im Notfall Rauch abzieht und die Tunnel mit Frischluft versorgt werden.
Hier machte der Fels den Mineuren beim Bohren und Sprengen besonders zu schaffen. Normalerweise baut man einen Tunnel oder einen unteririschen Bahnhof etwas größer als eigentlich benötigt. Durch den Gebirgsdruck schrumpft der Ausbruch ein Stück. Beim Verformen nimmt der Gebirgsdruck ab. Doch bei diesem Massiv war der Druck so groß, dass er die Lücke komplett geschlossen hätte. Deshalb stützten die Tunnelbauer die Hohlräume mit stählernen Verschiebebögen. Unter dem Druck des Gebirges rutschen Segmente langsam zusammen, bis sie stabile Ringe bilden.
Geschafft! Der Durchbruch
Gabi 1 und 2 vollendeten ihre Aufgabe im Norden im Juni und September 2009, sechs Monate früher als geplant, und stellten dabei noch einen Rekord unter den Hartgestein-Tunnelbohrmaschinen auf: In 24 Stunden fraß sich Gabi 2 unter den idealen Bedingungen an dieser Stelle 56 Meter durch den Berg. Erstaunlich ist dabei, wie genau die Maschinen ihr Ziel trafen: Beide waren von der Sollachse horizontal um vier und vertial um acht Millimeter abgewichen. Währenddessen wurde es im Süden noch einmal gefährlich, als in der Weströhre Gestein herunter brach.
Es waren Stabilisierungsmaßnahmen nötig, was den Zeitplan jedoch nur wenig beeinflusst. Am 15. Oktober 2010 und am 23. März 2011 durchbrachen Sissi und Heidi schließlich die letzten Meter. Schon während der Bohrarbeiten folgte ein Tross aus Arbeitern den Tunnelbohrern. Sie legten Dränageleitungen, bauten Abdichtungssysteme ein und betonierten die Gewölbe in Etappen von zwölf Metern. Damit waren die Vorbereitungen getroffen für den Einbau der Bahntechnik. Dieser Kraftakt dauerte bis Mitte 2015. Im September werden laut Plan die letzten Meter fertiggestellt.
Testfahrt im Highspeed-Tunnel
Bis die gesamte Eisenbahn-Transversale läuft, dauert es zwar noch etwas, denn dazu fehlt der Ceneri-Tunnel, der voraussichtlich 2020 eröffnen wird. Der Startschuss für den Testbetrieb des Gotthard-Basistunnels fällt jedoch schon am ersten Oktober 2015. Unter realen Bedingungen flitzen rund um die Uhr Hunderte von Zügen durch die Röhren des gewaltigen Konstrukts.
Dabei prüfen der Bauherr Alptransit Gotthard und die Schweizerische Bundesbahn das Zusammenspiel aller Tunnelkomponenten. Am 1. Juni 2016 wird der längeste Tunnel der Welt dann offiziell eröffnet. Die Plätze auf den zwei Jungfernfahrten, eine von Norden und eine von Süden, gehen als Dank für die Unterstützung des Projekts an Vertreter der Schweizer Bevölkerung.
Verkehrsgeschichte
Vom Tunnel ins Museum
Die Tunnelbohrmaschine Sissi wurde nach dem Durchbruch am 15. Oktober 2010 demontiert und in Segmenten nach hinten aus dem Tunnel geschafft, zeitgleich zum Endausbau der Tunnelröhre. Der Bohrkopf wurde als Teil der Verkehrsgeschichte anschließend so behandelt, dass sein Originalzustand auch unter Einfluss von Witterung erhalten bleibt. Dann wurde er in das Verkehrshaus der Schweiz gebracht. Seit 2012 steht er vor dem Eingang des vielbesuchten Museums in Luzern. Der Bohrkopf war gut drei Jahre auf dem Streckenabschnitt Faido-Sedrun in der Oströhre für die Arge TAT unter Federführung des Unternehmens Implenia unterwegs. Sissi maß in der Länge insgesamt 450 Meter. 66 Rollenmeißel presste die Maschine mit bis zu 26 Tonnen auf den Fels, um das Gestein zu lösen. Ein Modell der Gripper-Tunnelbohrmaschine und weitere Objekte des Schweizer Eisenbahn-Tunnelbaus sind im Museum ausgestellt.
Autorin: Dagmar Oberdorfer, Redakteurin für Fluidtechnik, Antriebstechnik, Mobile Maschinen und Schiffbau.