Wasserstoff ist leicht entflammbar und potenziell explosiv.

Wasserstoff ist leicht entflammbar und potenziell explosiv. Die hoch mobilen, kleinen Wasserstoffatome können zur Versprödung metallischer Bauteile führen. (Bild: Lubo Ivanko-adobe.stock.com)

Die Prozessindustrie steht vor der großen Aufgabe, die Anforderungen der Energiewende und das Ziel der Klimaneutralität erfolgreich voranzubringen. Dabei spielt die Dekarbonisierung industrieller Prozesse eine wichtige Rolle. Diese kann nur durch den vollständigen Ersatz fossiler Kohlenwasserstoffe gelingen. Vor allem für energieintensive Branchen wie die chemische Industrie gewinnt klimaneutraler Wasserstoff neben grünem Strom zunehmend an Bedeutung.

Allerdings stellt der Umgang mit Wasserstoff eine Herausforderung dar: Er ist leicht entflammbar und potenziell explosiv und die hoch mobilen, kleinen Wasserstoffatome können zur Versprödung metallischer Bauteile führen. Welche Anforderungen stellt dies an die verschiedenen Anwendungen in der Prozessindustrie? Welche Auswirkungen hat dies auf das eingesetzte Dichtungsmaterial und was gilt es bei der Auslegung der Bauteile zu beachten?

Wasserstoff als Herausforderung für Dichtungen

Sicher ist, dass zahlreiche Bauteile bestehender Prozesse nicht einfach in Wasserstoffanwendungen eingesetzt werden können. Um der Vielfalt der Herausforderungen zu begegnen, reichen häufig die in bestehenden Prozessen bewährten Standardlösungen nicht aus.

Anspruchsvolle Wasserstoffanwendungen erfordern einen völlig neuen Ansatz und benötigen Dichtungssysteme, die idealerweise speziell für die spezifischen Anforderungen konzipiert werden. Dabei können Entwickler auch auf Erfahrungen der chemischen Industrie zurückgreifen, die sich bereits seit langem mit Wasserstoffanwendungen beschäftigt.

Permeation verringern

Die hohe Permeation (Wanderung von Wasserstoffgas durch feste Materialien) ist auf mehrere Arten kritisch: die Verluste an wertvollem Wasserstoff verringern nicht nur die Effizienz, sondern können auch Sicherheitsrisiken darstellen, wenn sich der Wasserstoff zu einer explosiven Mischung anreichert. Da aber eine Permeation unausweichlich ist, müssen die verwendeten Produktgeometrien und Werkstoffe so ausgewählt werden, dass gewisse Schwellenwerte nicht überschritten werden.

Hierbei lassen sich vorab die materialspezifischen Permeationskoeffizienten bestimmen und mittels Simulationen der jeweiligen Einbausituation und Anwendungsbedingungen die zu erwartenden Permeationsverluste vorhersagen.

Mit geeigneter Werkstoffrezeptur können Dichtungsmaterialien wie das 70 CIIR 236460 und 90 HNBR 235194 mit reduzierter Wasserstoff-Permeabilität zur Verfügung gestellt werden.

Permeationskoeffizienten vs. Temperatur.
Permeationskoeffizienten vs. Temperatur: 70 CIIR 236460 und 90 HNBR 235194 und 70 EPDM 281. (Bild: FST)

Gegen explosive Dekompression beständige Dichtungsmaterialien verwenden

Eine Herausforderung für Dichtungsmaterialien in Wasserstoffanwendungen insbesondere für Hochdrucktankventile, ist die sogenannte explosive Dekompression. Das gasförmige Medium löst sich bei hohem Druck im Elastomer und tendiert dazu, bei schnellem Druckabfall schlagartig aus dem Dichtungswerkstoff auszutreten und zu expandieren. Dies führt zu hohen inneren Spannungen im Material und kann zu mechanischen Beschädigungen wie Blasenbildung oder Rissbildung führen. Die Dichtfunktion ist in diesen Fällen beeinträchtigt.

Eigens für diese speziellen Anforderungen wurden mechanisch robuste Werkstoffe entwickelt, die umfangreiche Labortests unter realitätsnahen Bedingungen bestanden haben und für Drücke bis mindestens 700 bar geeignet sind. In Abhängigkeit der Anwendungsparameter stehen hier verschiedene Lösungen zur Verfügung. Das 85 EPDM 239308 von Freudenberg Sealing Technologies dichtet zuverlässig von –60 bis 150 °C ab und zeigt gegenüber den Alternativen eine reduzierte Wasserstoffpermeabilität. Mit dem 80 FVMQ 567 können auch Anwendungen mit unpolaren Medien wie etwa Mineralöl abgedichtet werden.

Für den Fall besonders niedriger Temperaturen bis rund –110 °C arbeiten die Entwicklerteams bereits an weiteren Werkstoffen für diese herausfordernden Bedingungen, so zum Beispiel an Werkstoffen auf Basis von Nitrilkautschuk.

Aufbau zur Verschleißprüfung.
Aufbau zur Verschleißprüfung. (Bild: FST)

Verschleißarme Dichtungen für Kompressoren

Kompressoren sind in Wasserstoffanwendungen unverzichtbar, sie verdichten unter anderem den Wasserstoff nach der Elektrolyse, um die Energiedichte zu erhöhen und sorgen für platzsparenden Transport und Speicherung. Mechanische Kompressoren bestehen aus zahlreichen Bauteilen mit verschiedenen Dichtungssystemen, unter anderem dynamische Dichtungen.

Für diese stellt die Reibung zwischen Dichtung und Gegenlauffläche bei Tiefsttemperaturen bis –253 °C eine große Herausforderung in Hinblick auf den Verschleiß dar. Eine zuverlässige Dichtfunktion hängt daher vom optimalen Zusammenspiel von Dichtungsmaterial und passender Gegenlauffläche ab.

Freudenberg Sealing Technologies hat hierfür vor dem Hintergrund umfangreicher Erfahrungen mit dynamischen Dichtungen Methoden entwickelt, um die tribologischen Eigenschaften solcher Dichtungssysteme zu testen. Die aus den Tests unter realitätsnahen Bedingungen gewonnenen Daten zu den Reibeigenschaften reduzieren die Entwicklungszeiten für optimierte Dichtungslösungen deutlich.

Dichtungen für die Elektrolyse

Die Wasserelektrolyse, also die Trennung von Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff mittels regenerativen elektrischen Stroms ist der Schlüsselprozess für die Herstellung von grünem Wasserstoff. Zu den gängigen Elektrolyseverfahren zählen die alkalische Elektrolyse und die Polymer-Elektrolyt-Membran-Elektrolyse (PEM).

Dies muss bei Wasserstoffanwendungen beachtet werden:

  • Permeation (aufgrund der kleinen Molekülgröße zeigt Wasserstoff eine höhere Permeationsrate im Vergleich zu den meisten anderen Gasen)
  • Explosive Dekompression (bei hohen Drücken und Druckschwankungen)
  • Druckbeaufschlagung (Lagerung des Wasserstoffs in Hochdrucktanks)
  • Beständigkeit der Materialien gegen (verdünnte) Schwefelsäure und Sauerstoff (PEM-Elektrolyse)
  • Beständigkeit der Materialien gegen Kalilauge und Sauerstoff (Alkalische Elektrolyse)
  • Lebensdauer und Medienbeständigkeit von Dichtungsmaterialien in H2-Anwendungen
  • Hohe Temperaturen (SOFC, SOEC)

Alkalische Elektrolyse

Um Dichtungen optimal für diese speziellen Anforderungen auslegen zu können, werden Lagerungsversuche auf dafür entwickelten Prüfständen durchgeführt. Hierfür wird die Beständigkeit verschiedener Werkstoffe anhand von Proben durch Einlagerung in Kalilauge, in Sauerstoff oder auch in Kombination der beiden Medien getestet. Darüber hinaus lässt sich die Lebensdauer der Dichtungswerkstoffe in Sauerstoff durch Laborversuche in Kombination mit Simulationsmodellen berechnen. Die hieraus gewonnenen Daten liefern wichtige Erkenntnisse für die Optimierung der Dichtungsauslegung. So muss das eingesetzte Dichtungsmaterial in der Lage sein, den widrigen Bedingungen mit 30prozentiger Kalilauge und Sauerstoffdrücken bis zu 40 bar standzuhalten. In Kombination mit dem Material kann ein ausgeklügeltes Dichtungsdesign unterstützen und neben der Lebensdauer auch Herausforderungen wie Handling und Montage verbessern.

PEM-Elektrolyse

Durch die hohen Drücke von bis zu 100 bar mit steigender Tendenz stoßen vor allem organische Werkstoffe schnell an ihre Grenzen und ihre Lebensdauer verkürzt sich drastisch. Für die optimale Auslegung der Dichtungswerkstoffe für diese Anwendung werden Lagerungsversuche verschiedener Werkstoffe unter hohem Druck absolviert.

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Stichwort ‚Sauberkeit‘

Um die Effizienz der PEM-Elektrolyse nicht zu beeinträchtigen, darf der eingesetzte Elektrolyt keine Metallionen enthalten oder aus dem Dichtungsmaterial auswaschen. Diese würden ansonsten zu Verlustströmen führen und damit zu merklichen Leistungseinbußen. Betreiber von Elektrolyseanlagen können hier von der hohen Materialkompetenz, der erfahrenen Werkstoffentwicklung und der hauseigenen Mischwerke von Freudenberg Sealing Technologies profitieren. Saubere Werkstoffe sichern die Effizienz und Langlebigkeit der Elektrolyseanlagen.

Lebensdauervorhersage-Modelle für alkalische Elektrolyse-Dichtungen

Die Lebensdauer einer Dichtung hängt von zahlreichen Einflussfaktoren ab: Dazu gehören die materialberührenden Medien, Umgebungsbedingungen wie Temperatur und Druck sowie die dynamische Beanspruchung. Eine Aussage über die mögliche Gebrauchsdauer einer Dichtung ist daher nicht leicht zu treffen. Lebensdauerprognosen sind aber nicht nur betriebswirtschaftlich interessant, sondern auch ein wichtiger Indikator für eine Optimierung der Dichtungsauslegung und der Festlegung von Wartungsintervallen.

Dichtungen für die alkalische Elektrolyse sollen viele Jahre zuverlässig im Einsatz sein. Ein Zeitraum, der Echtzeittests für die Lebensdauerprüfung ausschließt. Deshalb sind innovative Lösungsansätze gefragt: präzise Langzeitprognosen zur verlässlichen Vorhersage der voraussichtlichen Lebensdauer einer Dichtung. Diese basieren auf zwei Modellen:

Chemisches Modell

Sauerstoff ist ein wesentlicher Treiber für die Alterung von Dichtungswerkstoffen in Elektrolyseuren. Auf Basis von Messungen an Materialproben im Labor kann die Sauerstoffkonzentration sowie deren Verbrauch durch Alterungsprozesse im Material abgeschätzt werden. In Lagerungstests werden die Änderungen der mechanischen und chemischen Eigenschaften einer Dichtung über einen definierten Zeitraum hinweg verfolgt.

Beispiel einer beschädigten Dichtung.
Explosive Dekompression: Beispiel einer beschädigten Dichtung. (Bild: FST)

Dynamisches Netzwerkmodell

Die zweite Grundlage für eine präzise Lebensdauervorhersage ist ein mathematisches Modell, das wichtige Alterungseffekte wie Deformation, fortschreitende zyklische Erweichung (Mullins-Effekt), Relaxation und Kriechverhalten sowie dauerhafte Verfestigung und Veränderungen der Steifheit realistisch abbilden und in Finite-Elemente-Simulationen integrieren kann. Anhand der beschleunigten Lagerungstests werden zuerst die freien Parameter des Modells für einen Werkstoff bestimmt.

In der Simulation können dann beliebige Dichtungsgeometrien unter verschiedenen Einsatzbedingungen mit unterschiedlichen Temperaturprofilen virtuell getestet werden. Die Ergebnisse liefern eine wichtige Entscheidungsgrundlage für optimierte Material- und Designlösungen, wenn es gilt, die optimale Dichtung für die jeweilige Anwendung zu entwickeln.

Je realitätsnäher Daten wie Temperaturen, Einsatzbedingungen und Prozessdrücke hier sind, desto präziser ist letztendlich auch die Prognose für die Lebensdauer.

Kompetenter Entwicklungspartner für Wasserstoffanwendungen

Das Thema Wasserstoff birgt aufgrund seiner Komplexität eine Vielzahl nicht zu unterschätzender Herausforderungen. Die beschriebenen Beispiele zeigen, dass sich die Anforderungen an die Dichtungen abhängig von der jeweiligen Anwendung in Wasserstoff stark unterscheiden. Dichtungslösungen aus dem Katalog können diese daher häufig nicht ausreichend erfüllen.

An dieser Stelle ist es wichtig, sich einen Entwicklungspartner mit Erfahrung in der Prozessindustrie zu suchen. Damit profitieren Industriekunden von dessen Know-how und einer umfangreichen Expertise rund um Material-, Produkt- und Prozessentwicklung sowie umfangreichen Serviceleistungen. Unterstützt von eigenen Material­modellen für die Simulation der Lebens­dauervorhersage und Lagerungsversuchen, entstehen so speziell für die jeweilige Anwendung hochleistungsfähige und effiziente Dichtungslösungen für den Einsatz in Wasserstoffanwendungen.

Autoren: Dr. Robert Rotzoll, Business ­Development Manager, Marina Nußko, Quality & Project Manager, beide Freudenberg Sealing Technologies

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