adobestock_dmyto.jpg

(Bild: AdobeStock_DmyTo)

Heutzutage ist die Entstehung und Fortpflanzung von Rissen in Elastomeren ein von der Polymerphysik intensiv bearbeitetes Feld. Risse in Dichtungen können verschiedene Ursachen haben, die sich in vier Gruppen kategorisieren lassen: Medien, Temperatur und Alterung, mechanische und physikalische Einwirkungen und Herstellungsfehler.

Risse eines FKM-O-Rings,
Risse eines FKM-O-Rings durch Übervulkanisation nach einer Druckverformungsprüfung von 168 Stunden
bei 200 Grad Celsius. (Bild: O-Ring Prüflabor Richter)

Der folgende Artikel befasst sich mit Rissen, die durch Herstellungsfehler entstehen. Eine Auswertung von mehr als 2000 Schadensfällen, die bei O-Ring Prüflabor Richter bearbeitet und analysiert wurden, ergab, dass herstellungsbedingte Risse in circa zehn bis 15 Prozent der Fälle der Ausfallgrund der Dichtung waren. Im Folgenden wird es um die praktische Abgrenzung eines herstellungsbedingten Risses von einem Überlastungsriss gehen.

In der Technik ist es eine allgemein anerkannte Forderung, dass Dichtungen keine Risse aufweisen dürfen. So schreibt die ISO 3601-3 (August 2010), welche sich mit Form- und Oberflächenabweichungen an O-Ringen befasst, auf Seite 7: „In nicht gedehntem Zustand muss die Oberfläche des O-Rings bei zweifacher Vergrößerung unter angemessener Beleuchtung frei von Anrissen (…) sein.“

Risse Elastomermischung,
Diese Risse entstanden, weil die Elastomermischung überlagert war. (Bild: O-Ring Prüflabor Richter)

Jedoch sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass auf mikroskopischer Ebene so gut wie jedes Elastomerbauteil Fehlstellen enthält, zum Beispiel organische oder anorganische Schmutzpartikel, Reste von chemischen Hilfsmitteln zur Entformung, schlecht dispergierte Compounds, Reste vorher verarbeiteter Mischungen und so weiter.

Auch eine noch so sorgfältige Fertigung kann diese nie vollkommen ausschließen, sondern nur reduzieren. So weisen im Zugversuch an Normprobekörpern größere Bauteile schlechtere Festigkeitswerte auf als kleinere, weil durch das zunehmende Volumen auch die Fehlstellen zunehmen. Jede dieser Fehlstellen kann der potenzielle Auslöser und Beginn eines Risses sein; somit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit eines frühzeitigen Einreißens beim Zugversuch, was die niedrigeren Festigkeitswerte an großen Probekörpern erklärt. Entscheidend ist jedoch die Größe dieser Fehlstellen und mitunter Mikrorisse in Verbindung mit dem späteren Einsatzgebiet der jeweiligen Dichtung. So sind statische Dichtungen in der Regel Rissen gegenüber viel toleranter als dynamisch belastete.

gerundeter Rissübergang,
Dieser gerundete Rissübergang entstand durch einen herstellungsbedingten Vulkanisationsfehler. (Bild: O-Ring Prüflabor Richter)

Ferner soll erwähnt werden, dass es auch Werkstoffe gibt, bei welchen eine Rissfortpflanzung relativ wenig Energie benötigt, die also einen geringen Weiterreißwiderstand haben. Dazu gehören zum Beispiel viele – aber nicht alle – VMQ-Werkstoffe oder peroxidisch vernetzte EPDM-Werkstoffe mit guter Kälteflexibilität. Der Weiterreißwiderstand ist auch abhängig von der Temperatur: Je höher diese ist, umso geringer ist er (jedoch je nach Elastomertyp und –füllstoffen unterschiedlich stark ausgeprägt).

Problematisch ist, dass viele kritische Risse nicht mit bloßem Auge zu erkennen sind, da sie entweder zu klein beziehungsweise auf den meist kontrastarmen schwarzen Dichtungen nicht erkennbar sind oder sich nur bei einer Dehnung des Elastomerbauteils in eine bestimmte Richtung zeigen.

Die häufigsten Fehler

Bei den herstellungsbedingten Fehlern können sechs häufige Rissursachen unterschieden werden:

  • Fehlerhafte Vulkanisation, zum Beispiel bei kritischen Werkstoffen wie ACM
  • Mischung überlagert (bereits „angescorcht“, also anvulkanisiert)
  • Risse aufgrund von Verunreinigungen
  • Schrumpfrisse
  • Entformungsrisse
  • Risse durch Nachbearbeitung

Fehlerhafte Vulkanisation

Riss Fremdmaterialeintrag,
Dieser Riss wurde ausgelöst durch Fremdmaterialeintrag. (Bild: O-Ring Prüflabor Richter)

Es gibt verschiedene Gründe für Vulkanisationsfehler. So kann eine hohe Scorchanfälligkeit der Mischung Probleme bereiten. Dadurch kann es besonders im Bereich von Zusammenflussstellen entweder zu Einkerbungen und Fließlinien und/oder einer erhöhten Rissanfälligkeit kommen. Genaugenommen beginnt die Vernetzung ja schon bei Raumtemperatur, kritisch wird es, wenn sie eine bestimmte „Schwelle“ überschreitet. Dies geschieht – zumindest beim konventionellen Spritzgießen (Injection Molding) ohne Kaltkanal – hauptsächlich auf zwei Wegen: Erstens im Zylinder: Dies ist der Fall wenn, vor allem bei sehr hochviskosen Mischungen, eine hohe Zylindertemperatur in Kombination mit langen Verweilzeiten im Zylinder (großer Zylinder und kleines Schussvolumen, Pausen et cetera) gewählt wird. Durch die schlechte Wärmeleitfähigkeit der Gummimischung sind die Mischungsteile in den Randbereichen des Zylinders eher betroffen. Zweitens im Werkzeug, während des Einspritzens: Ursache hier ist eine zu hohe Werkzeugtemperatur (um Zykluszeit zu sparen), eventuell auch in Kombination mit hoher Massetemperatur beim Zylinderaustritt.

Beim Pressen (Compression Molding) ist der größte Risikofaktor eine zu lange Verweildauer der unvulkanisierten Rohlinge auf dem heißen Werkzeug während des Beladens. Will man die Vulkanisation durch hohe Temperaturen zu sehr beschleunigen, so kann jede Mischung zu früh vulkanisieren. Dies zeigt sich in der Anwendung unter Umständen erst unter Verformung und hohen Temperaturen.

Anvulkanisierte Mischung

Schrumpfrisse an O-Ringen,
Schrumpfrisse an O-Ringen entstehen beim Abkühlen. (Bild: O-Ring Prüflabor Richter)

Jede Elastomermischung besitzt ein bestimmtes Mindesthaltbarkeitsdatum. Nach diesem sollte sie nicht mehr verwendet werden beziehungsweise nur, wenn durch abgesicherte Tests sichergestellt werden kann, dass die Mischung noch einen tolerierbaren Grad an Vorvernetzung enthält und problemlos verarbeitbar ist, zum Beispiel durch Rheometerprüfung, Verarbeitbarkeitsstudien in der Spritzgießmaschine und ähnliches.

Einige Mischungen verlangen auch eine Lagerung im Kühlhaus. Wird diese vergessen oder unter falschen Bedingungen durchgeführt, kann die Mischung bereits innerhalb ihres Haltbarkeitsdatums unbrauchbar werden. Durch die eingesetzte, irreversible, chemische Vernetzung kann die Mischung durch keine Arbeitsschritte wieder brauchbar gemacht werden.

Ein weiterer Grund für eine Anvulkanisation kann eine zu hohe Wärmeentwicklung beim Extrudieren sein, also bei der Herstellung von Rohlingen, oder beim Strainern (Sieben der Mischung um Füllstoffagglomerate herauszufiltern und die Mischung zu homogenisieren).

Ist eine Mischung stark anvulkanisiert, ist dies für den Dichtungshersteller oft relativ leicht zu erkennen, da sich durch den hohen Anteil des vorvernetzten Materials die Mischung nur teilweise oder überhaupt nicht mehr ins Werkzeug einspritzen lässt. Weitaus kritischer und häufiger in der Praxis führen Mischungen an der Grenze ihrer Verwendbarkeit zu Problemen. Dieser Grenzbereich lässt sich nämlich nur durch Rheovulkameterprüfungen bestimmen.

Eine überlagerte Mischung kann der Grund für erhöhte Form- und Oberflächenfehler sein. Dazu zählen insbesondere Fließfehler. Und es kann zu erheblich größeren Streuungen bezüglich der Reißdehnung der Bauteile und zu geringeren Festigkeiten führen. Zu erkennen ist das, wenn beim Zugversuch an den Fertigteilen die relative Standardabweichung 15 Prozent oder höher ist. An einem dadurch vorgeschädigten und dann durchgerissenen Bauteil finden sich in der Regel ein ausgefranster oder wellenförmiger Rissverlauf und eine inhomogene, oft zerklüftete Bruchfläche. Bei stark überlagerten Mischungen kann sich sogar eine schichtartige Struktur bilden, so dass bereits bei kleinen Verformungen innere Risse in der Dichtung entstehen.

Risse aufgrund von Verunreinigungen

Entformungsriss,
So sieht ein typischer Entformungsriss an einem Dichtelement aus. (Bild: O-Ring Prüflabor Richter)

Fließfehler und dadurch ausgelöste Risse können auch durch Verunreinigungen entstehen. Bei unzureichender Werkzeugreinigung kann es bei bestimmten Mischungen zu starken Verschmutzungen kommen, sowohl gelöste Partikel als auch filmische Verunreinigungen können zum Auslöser von Rissen werden. Ebenso kann ein ungeeignetes oder zu hoch dosiertes Formtrennmittel zu Problemen führen. Schlecht gemischte Compounds, die nicht genügend dispergiert wurden, können ebenso zu einer erhöhten Rissanfälligkeit neigen.

Schrumpfrisse

Der hohe Schwundfaktor von Gummi kann beim Abkühlen dazu führen, dass insbesondere dickwandige Teile an der Formtrennung leichte „Ausfressungen“ zeigen, die zur Rissbildung führen können. Bei O-Ringen werden dafür Grenzwerte in der DIN ISO 3601-3 unter dem Merkmal „Einkerbungen“ vorgegeben.

Entformungsrisse

Nach dem Press- beziehungsweise Spritzvorgang wird das Elastomerbauteil entweder manuell oder automatisiert aus dem Werkzeug entnommen, zum Beispiel durch Bürsten oder Greifer. Bei diesem Vorgang kommt es immer wieder zu Rissen. Dies kann entweder durch ein verschmutztes Werkzeug bedingt sein, welches die Entnahme behindert oder durch eine mischungsbedingtes Kleben im Werkzeug, weil zum Beispiel die Verwendung eines Trennmittels vergessen wurde oder es sich um eine besonders klebrige Mischung handelt, zum Beispiel peroxidisch vernetzter FKM.

Eine ungenügende Bauteilkonstruktion (zum Beispiel  scharfe Kanten, Hinterschneidungen) oder ein fehlerhaftes Produktionswerkzeug kann ebenfalls Entformungsrisse begünstigen. Bei Werkstoffen mit einer geringen Heißeinreißfestigkeit, beispielsweise peroxidisch vernetzten FKM- oder EPDM-Werkstoffen, genügen bereits kleine Kräfte oder Verkantungen, um einen Riss zu erzeugen.

Außerdem kann es bei einer vorzeitigen Entnahme eines Elastomerbauteils aus dem Werkzeug zu Rissen kommen, da es noch nicht ausreichend vernetzt war.

Risse durch Nachbearbeitungsschritte

Risse entstanden beim Tempern,
Diese Risse entstanden bei einem Nacharbeitsschritt: dem sogenannten Tempern. Ursache ist wohl eine örtliche Überhitzung durch einen defekten oder falsch eingestellten Temperofen. (Bild: O-Ring Prüflabor Richter)

Bei manchen Dichtungen entsteht die Dichtfläche nicht bei der Formgebung, sondern erst im Nachbearbeitungsprozess. So werden beispielsweise Rechteckdichtringe von extrudierten Schläuchen abgestochen oder bei den meisten Radialwellendichtringen wird die Dichtfläche durch ein Abstechen erzeugt. Bei diesem Verfahrensschritt kann es zu Ausbrüchen beziehungsweise Verletzungen der Dichtung und daraus resultierenden Rissen kommen.

Um ein vollständiges Füllen der Kavitäten sicherzustellen werden sowohl beim Spritzgießen, dem sogenannten Injection Molding, als auch beim Pressen (Compression Molding) die Kavitäten überfüllt, so dass ein dünner Austrieb, der Grat, in der Trennebene entsteht. Um diesen unerwünschten Austrieb von den eigentlichen Spritzlingen zu entfernen, müssen nahezu alle elastomeren Dichtungen nach der Vulkanisation einer Entgratung unterzogen werden, wobei sich hierfür bei fast allen Dichtungsherstellern die Kälteentgratung als praktikabelstes Verfahren durchgesetzt hat. Hierbei werden die zu entgratenden Teile mittels flüssigen Stickstoffs eingefroren und anschließend im gefrorenen Zustand mit einem durch ein Schleuderrad beschleunigtes Kunststoffgranulat beschossenen.

Bei perfekt eingestellten Parametern (Temperatur, Granulatgröße, Schleuderraddrehzahl) reicht die kinetische Energie dieses Granulates aus, um die dünne Haut von den dickwandigeren Teilen zu entfernen ohne diese zu beschädigen. In der Praxis kommt es aufgrund von falschen Parametern oder Schwankungen der Granulatgröße immer wieder auch zu Beschädigungen der zu entgratenden Teile. Am anfälligsten sind Dichtungen mit geringer Schnurstärke. Besonders kritisch sind angerissene Teile, da diese Vorschädigung nur bei entsprechender Aufdehnung detektierbar ist und während der Anwendung zu einem Versagen führen kann. Ebenso kann ein falsches Tempern oder ein falsch eingestellter oder defekter Ofen beim Tempern Risse erzeugen.

Erfahren Sie in Teil zwei der Serie, wie Sie die verschiedenen Riss-Arten voneinander unterscheiden. Teil drei der Artikel-Reihe behandelt Schadensbilder, die herstellungsbedingten Schäden ähneln, aber keine sind. do

Bleiben Sie informiert

Diese Themen interessieren Sie? Mit unserem Newsletter sind Sie immer auf dem Laufenden. Gleich anmelden!

Sie möchten gerne weiterlesen?