Vor ‚industriellen Toilettenpapier-Panikkäufen‘ wird gewarnt.

Vor ‚industriellen Toilettenpapier-Panikkäufen‘ wird gewarnt. Es gibt bessere Strategien. (Bild: pixabay, Alexas ­Fotos)

Für so manchen Fluidtechnikanwender und Hersteller von Maschinen und Anlagen war 2021 ein Rekordjahr. Die Branche könnte noch besser performen, wäre da nicht die hochkritische Situation bei Materialverfügbarkeiten und Lieferterminen. Auf bestimmte Teile, die vor zwei Jahren noch vier Wochen Wiederbeschaffungszeit hatten, müssen Unternehmen bis zu sechs Monate warten.

Massive Lieferprobleme bestehen zum Beispiel bei Elektromotoren, Frequenzumrichtern, Mikrocontrollern, Motorleitungen, Geberleitungen und vielen anderen Komponenten. Für nicht lieferbare Rohstoffe, Vormaterialien und Kaufteile haben Supply Chain Manager Deckungskäufe getätigt, teilweise zum zehn- bis 50-fachen des normalen Preisniveaus. Viele Lieferanten bestätigen keine verbindlichen Liefertermine mehr. Selbst Mengenerhöhungen bis Ende 2022 garantieren keine priorisierte Belieferung.

Zu den preistreibenden Faktoren gehören neben den fehlenden Fertigungskapazitäten coronabedingte Ausfälle von Mitarbeitern und der Fachkräftemangel. Hinzu kommt die Transportkrise; so werden für einen Container für Lieferungen aus China schon mal 15.000 Euro fällig. Konnte man Preissteigerungen 2021 teilweise noch durch Mengenkontrakte und Rahmenvereinbarungen abfangen, werden Preise für wichtige Vorprodukte, Kaufteile, Transporte und Energie nun weitergereicht.

Die diffizile Lage erschwert auch die Hausaufgaben des Einkaufs und der Supply Chain Manager: Dazu gehören Lieferantensuche, -auditierung und -freigaben. Innovationsgenerierung gerät dabei intern zwangsläufig ebenso in den Hintergrund wie Weiterbildung und Qualifizierung.

Fluidtechnik boomt

Der VDMA-Fachverband Fluidtechnik vermeldet für die Branche eine Steigerung des Umsatzes von insgesamt +23 Prozent für 2021 gegenüber 2020 und in Sachen Auftragseingang ebenfalls beträchtliche Zuwächse mit +27 Prozent bei der Pneumatik und +48 Prozent bei der Hydraulik. Hinsichtlich des Umsatzes wurde die Prognose für 2021 damit sogar leicht übertroffen. „Vor dem Hintergrund von ­Rekordumsätzen und Auftragseingängen und mit Aktivitäten in Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Bildung kommt die Fluidtechnik sehr gut durch diese volatile Zeit und schaut optimistisch in die Zukunft“, sagt ­Hartmut Rauen, stellvertretender VDMA-Hauptgeschäftsführer und zudem für die Fluidtechnik verantwortlich.

Die IFO-Konjunkturuhr stehe für beide Branchen ‚auf Boomphase‘, heißt es beim Verband. Aber: Die komplexen Lieferprobleme fordern die Unternehmen extrem. Rauen nennt exemplarisch Engpässe bei Kunststoffen, Metallen, Aluminium und – noch kritischer – Mikroelektronik beziehungsweise Chips. Die Branche gebe ihr Bestes, könne aber den hohen Auftragsbestand nicht einfach in Umsatz umwandeln.

Der VDMA rechnet frühestens im zweiten Quartal 2022 mit Entspannung auf den Märkten, bei Elektronikkomponenten nicht vor dem dritten Quartal und in vielen Unternehmen sogar noch später.

Thomas Mademann, GF GMVK Procurement Group.
„Je besser der Einkauf seine Beiträge und Potenziale berechnen und begründen kann, desto besser die Gesamtperformance des Unternehmens.“ Thomas Mademann, GF GMVK Procurement Group (Bild: GMVK)

Thomas Mademann, Geschäftsführer der GMVK Procurement Group (Essen), verweist beispielhaft auf Engpässe bei Gusskomponenten und Halbleitern für Steuerungen – „auch mittelbar, weil etwa bei Siemens aktuell lange Lieferzeiten bestehen, die sich aus Bauteilengpässen ergeben“. Umstände, die sich „vermutlich erst 2023 mildern und somit auch Auswirkungen auf die Fluidbranche haben“. Insbesondere Komponenten aus Asien seien unter Druck, weil die extrem dynamische Nachfrage dort die Märkte quasi um jeden Preis leersauge. Damit stelle sich Europa hinten an.

Hinzu kämen die Verwerfungen in der Logistik – bei einem Ungleichgewicht zwischen Warenströmen aus und nach China, Problemen in amerikanischen Häfen und wiederkehrenden Teil-Lockdowns in chinesischen Häfen. Mademann: „Grundsätzlich haben sich die durchschnittlichen Lieferzeiten oder Wiederbeschaffungszeiten für nicht lagerhaltig vorrätige Materialien verdreifacht. Hier ist vor allem auch der Sondermaschinenbau betroffen.“ Wer nur im Kundenauftrag und in Losgröße 1 fertige und spe­zielle Komponenten nicht lagerseitig vorrätig habe, müsse häufig mit Lieferverzögerungen zwischen drei und sechs Monaten zum Standard rechnen.

Konsequenzen, Lösungen, Strategien

GMVK-Geschäftsführer Mademann rät: „Die Strategie zum Gegensteuern liegt im Auf- und Ausbau von Materialbeständen, zumal die Kosten durch das gebundene Kapital aktuell weiter sehr niedrig sind.“ Für Serienfertiger sei das ein funktionierendes Instrument. Sondermaschinenbauer steuerten mit Sourcing Task Forces gegen. Da oft nur kleine Mengen spezieller Teile benötigt würden, durchforste man Handelsstrukturen nach Fehlteilen – ‚aufwendig und meist zu hohen Kosten‘, um Aufträge abschließen und abrechnen zu können. Eine technologische Alternative bei Elektronik: Software von Steuerungen und Komponenten würden umgeschrieben, um sie auch auf anderer Hardware lauffähig zu machen.

Als Risikomanagementmaßnahme versuche der Einkauf, Lieferalternativen in Europa und Amerika aufzubauen. Allerdings gebe es in der Chemie und bei Halbzeugen Bereiche, in denen die deutsche Wirtschaft auch mittelfristig von Asien abhängig bleibe. Mademann rät zur multikontinentalen Supplier-Struktur, „weil Supply-Chain-Schocks selbst bei globalen Ereignissen nicht zeitgleich auf allen Kontinenten wirken“.

Jörg Bürgers, Leiter strategischer Konzerneinkauf, Weinig.
„Wir führen täglich Lieferanten­gespräche. Bei ­Eskalation unterstützt unser ­Vorstand.“Jörg Bürgers, Leiter strategischer Konzerneinkauf, Weinig (Bild: Weinig )

Tägliche Lieferantengespräche

Für den weltweit führenden Hersteller von Maschinen und Systemen in der Massivholzbearbeitung Weinig aus Tauberbischofsheim war 2021 ein bemerkenswert gutes Jahr, auch 2022 läuft gut an. Jörg Bürgers, Leiter strategischer Konzerneinkauf, muss aber unkonventionelle Strategien auf die Straße bringen, um das Geschäft am Laufen zu halten: „Die gesamte Gemengelage fordert uns extrem, aber wir konnten bisher alle Maschinen ausliefern. Wir fahren wie geplant mit Vollgas weiter.“

Weinig hat zwei Task Forces gebildet. Hier kommen Entwicklung, Konstruktion, Fertigung, Qualitätssicherung, Vertrieb und Einkauf zusammen. Die Agenda der Task Force 1 zur ‚Sicherstellung der Maschinenauslieferung‘ umfasst den Blick auf kritische Teile für Mechanik, Elektrik und Schüttgüter und beschäftigt sich mit Inhouse Lösungen für technisch-konstruktive Lösungsansätze (wie Alternativprodukte und -materialien) sowie mit dem Finden alternativer Lieferanten und Vertriebskanäle über einen kurz- bis langfristigen Zeithorizont. Task Force 2 ist mit ‚Machbarkeitsanalyse der Maschinenauslieferung‘ überschrieben: Welche Maschinen können aufgesetzt werden? Welche können termingerecht nach Netzplan fertiggestellt werden?

„Wir führen täglich Lieferantengespräche. Bei Eskalation unterstützt unser Vorstand“, sagt Jörg Bürgers. Wichtig: eindeutige Kommunikation. Weinig teile Lieferanten ‚ganz klar‘ mit, was in absehbarer Zeit benötigt werde, aber ohne unnötig zu bevorraten. Mengen-Forecasts verhelfen zu einem kontinuierlichen Zufluss von Materialien in homöopathischen Dosen, damit die Fertigung immer genug Material hat. Bürgers warnt vor ‚industriellen Toilettenpapier-Panikkäufen‘. Weinig disponiert und bestellt teilweise bereits bis ins erste Quartal 2023. Lieferanten können so eine optimierte Fertigungs- und Kapazitätsplanung durchführen.

Hartmut Rauen, stellvertretender Hauptgeschäftsführer VDMA, GF Fluidtechnik.
„Wichtig ist der Fokus auf Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Energieeffizienz, Aus- und Weiterbildung sowie Kooperation mit Hochschulen.“Hartmut Rauen, stellvertretender Hauptgeschäftsführer VDMA, GF Fluidtechnik (Bild: VDMA)

Hartmut Rauen vom VDMA bescheinigt den Fluidtechnikfirmen, „viel richtig zu machen“, was auch die Zahlen zeigten. Im Hinblick auf Resilienz von Lieferketten gelte es, Alternativen zu prüfen. Über den Bemühungen um eine Verringerung der Lieferzeiten dürfe ein verbesserter Carbon Footprint nicht vergessen werden. Rauens Empfehlung für die Weiterentwicklung von Märkten und Geschäftsmodellen: „Fokus auf Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Energieeffizienz, Aus- und Weiterbildung, Kooperation mit Hochschulen.“

Gute Daten – gute Entscheidungen

Selbst größere und wichtige Lieferanten fahren vielfach nur noch auf Sichtweite von wenigen Tagen. Ausweichstrategien und Schaffung von Resilienz sind freilich keine Frage von Tagen oder Monaten. Weil viele Supply Chain Manager noch immer nicht mit entsprechenden E-Tools ausgestattet sind, fehlt der 360-Grad-Überblick. Wer keine Transparenz über alle Daten im Unternehmen hat, generiert auch falsche Annahmen, aus denen zwangsläufig falsche Maßnahmen erwachsen.

Frank Kronmüller, Managing Director, R+W Antriebselemente.
„Uns geht es auch um viele interne Werte, die wir mit Hilfe neuer Software und eigener Data Specialists monitoren.“
Frank Kronmüller, Managing Director, R+W Antriebselemente
(Bild: R+W)

Bei der R+W Antriebselemente (Wörth am Main) spielen Daten als Wertanlage eine zentrale Rolle. Managing Director Frank Kronmüller macht deutlich, dass nach Sammeln der Daten unbedingt die sinnvolle Verarbeitung und Kanalisierung von Informationen sowie der Schutz der Daten folgen müssten. „Bei R+W geht es auch um viele interne Werte, die wir mit Hilfe neuer Software und eigener Data Specialists monitoren“, so Kronmüller.

Thomas Mademann von der GMVK Procurement Group verweist auf Business Intelligence (BI): „Das Ergebnis steht und fällt mit der Leistung des Einkaufs. Je besser dieser seine Beiträge und Potenziale berechnen und begründen kann, desto besser die Gesamtperformance des Unternehmens. BI schafft Quantensprünge in kurzer Zeit.“

Zudem gelte es auch für die Fluidbranche, automatisiertes Risikomanagement zu implementieren. Neuer zentraler Aspekt ist die aktive Zusammenarbeit mit Lieferanten. Sie verfügen über kritische Informationen zu ihrem Standort, zu Betriebsabläufen und eigenen Lieferanten, die allesamt relevant für die Lieferkette sind. Beispiel für eine solche Systematik ist die Lösung von riskmethods (München).

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